„Denn ich selbst habe mir meine Geschichte oft erzählt, aber anderen nicht.“ (Boris Cyrulnik)

Auseinandersetzung als Voraussetzung zur Überwindung von zweierlei Schweigen.

Spätfolgen „am eigenen Leib“

1. Tätergeschichten | partizipative MindMaps

Derschmidt begann 2010, seine erweiterte Großfamilie in einem partizipativen Projekt damit zu konfrontieren, dass die 3 Generationen der 1870er – 1920er nicht nur deutschnational und antisemitisch gesinnt sondern Multiplikatoren jener Ideologien waren, auf deren Humus der Nationalsozialismus gedieh für den sie sich später begeistert engagierten. Das groß angelegte Familienprojekt Reichelkomplex wurde anhand biografischer Geschichten ab Mitte des 19. Jhd in Verbindung mit Zeitdokumenten entwickelt. Die kunstdidaktische Umsetzung basiert auf Mindmaps einer „Vererbungslehre der Ideologie“: Großflächige Visualisierungen zeigen Verbindungen von der Eugenik seines Urgroßvaters Heinrich Reichel über aggressiven Nationalismus, Volkstümelei und Antisemitismus hin zu „schönen Bräuchen“ wie Blaudruck, Volkstanzen, Jodeln oder Naturverbundenheit, Mutterliebe und Familiensinn auf. Bezüge werden erkennbar, die man so nicht vermuten würde: Vermeintlich harmlose, bis zum heutigen Tag gelebte Praxen und Haltungen können zur Diskussion gebracht werden. Die Mindmaps werden bei Ausstellungen im In und Ausland an diverse Kontexte angepasst durch das Publikum in Workshops diskutiert und ergänzt. (zuletzt: Neuengamme und NS Dokuzentrum München) Das Buch Sag Du es Deinem Kinde – Nationalsozialismus in der eigenen Familie wird bei multimedialen Lecture Performances verwendet, dem Publikum zu ermöglichen, unangenehme Fragen an die jeweils eigenen Familienerzählungen zu stellen.

2. Synoptische Portraits Überlebender

In den groß angelegten Rauminstallationen der synoptischen Portraits wird versucht, den Besucher*innen eine komplexere Wahrnehmung jener Unterschiede zu ermöglichen, die zwischen dem zweierlei Schweigen bestehen (Assmann 2013).

Gemeinsam mit dem „Hitlerjungen Salomon“ Sally Perel wurde ein 8teiliges synoptisches Portrait erstellt, in dem er seine Geschichte je einmal als Hitlerjunge Jupp und als jüdischer Bub Salomon Zuhörenden in deutsch, polnisch, hebräisch und russisch erzählt. Bei der Erst-Ausstellung im Jüdischen Museum Wien fand ein langes Gespräch Perels mit Jugendlichen statt.

Zusammen mit dem Künstler, Auschwitz Überlebenden und Zeitzeugen Yehuda Bacon wurde das 6teilige synoptische Portrait in den Sprachen deutsch, tschechisch und hebräisch erstellt. Bacon sprach jeweils zur Hälfte mit Frauen und Männern, jüdischen und nichtjüdischen, alten und jungen und in Israel und nicht in Israel wohnenden Gesprächspartner*innen. Die Arbeit eröffnet multivokale Räume für die Auseinandersetzung unterschiedlich Zuhörender. Hier ist ein Mensch vielstimmig wahrnehmbar, was ermöglichen kann, Shoa Überlebende jenseits der Stereotype zu erleben. Der Shoa Education soll im Zeitalter des medialen Gedächtnisses (J.A.Assmann) ein Instrumentarium an die Hand gegeben werden, dass es jüngeren Generationen ermöglicht, sich mit jenen Menschen in all ihren Unterschiedlichkeiten in Beziehung zu setzen.