Leseprobe: „Sag Du es Deinem Kinde – Nationalsozialismus in der eigenen Familie“ Kapitel 1

Reichel komplex

 

Bildstörung 1

Als etwa acht oder neunjähriges Kind stand ich vor dieser Stammtafel in der Wohnung meiner Großeltern. Mir fiel natürlich als Besonderheit auf, dass da meine Großmutter und ihre acht Geschwister in sehr eigentümlicher Weise abgebildet waren. Jede Person war einmal von vorne, einmal im Profil und einmal im Halbprofil dargestellt. Das war erstaunlich – vor allem aber bemerkte ich, dass bei einem, nämlich dem Zwillingsbruder meiner Großmutter, nur eines dieser drei Bilder vorhanden war. Das regte mich an, zu fragen:

“Großmutti, warum haben hier alle drei Bilder, nur der hier hat nur eines?”

“Weißt du, die anderen beiden Bilder haben wir abgenommen, das war nach dem Krieg zu gefährlich. “…aber warum gefährlich?” “Da hatte mein Bruder eine SS-Uniform an” “Aha…” (damals wusste ich nicht was das bedeutete) “…aber warum kenn ich den nicht? Die Anderen kenn ich ja mehr oder weniger.” “Weißt du, der ist damals in Russland erschossen worden.” und nach einer kurzen Pause: “Das war wahrscheinlich auch besser so.”

Detail aus der „Stammtafel Heinrich Reichel“ (Mitte der 1930er Jahre

 

In den spätern 1960er und den frühen 1970er Jahren bin ich in einer bekannten oberösterreichischen Grossfamilie in dem Bewußtsein erzogen worden, etwas “Besonderes” zu sein. Worin diese Besonderheit bestehen sollte, war unklar.

 

Über die Jahre und nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie habe ich herausgefunden, dass in der Grossfamilie ein sehr komplexes Gespinnst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generationen der Grosseltern und Urgrosseltern gewoben worden war. Ich erkannte, dass auch Menschen, die mir emotional sehr nahe standen, aktiv an dieser Selbstverherrlichung der Grossfamilie Teil hatten und teilweise daran bis heute festhalten. Innerhalb dieses Kokons aus Geschichten wurde mir schrittweise immer klarer, daß nicht wenige Familienmitglieder aktive und begeisterte Nazis gewesen sind, viele in der NSDAP waren, einige sogar hohe Offiziere bei SS und SA gewesen sind und manche durchaus einflussreiche Positionen in allen Sparten der Gesellschaft während des Dritten Reiches inne hatten.

 

Ich begann Interviews mit Verwandten zu führen und eine ungeheure Fülle an Material zu sammeln. Das war der Zeitpunkt, der mich zu einer Art Familienchronisten gemacht hat. Dennoch hatte ich vorläufig nicht die geringste Ahnung, was ich mit all der Information anstellen sollte.

 

In dem, was ich als “das System der Familie” bezeichne, spielte mein Urgrossvater offensichtlich eine zentrale Rolle. Er war Arzt und Universitätsprofessor und ein nicht unbekannter Vertreter der Eugenik in Österreich. Seinen Studierenden bleute er ein, dass Familien und Ahnenforschung ein wichtiges Werkzeug der – wie es damals hiess – “Rassenforschung” sei und dass es von grosser Wichtigkeit wäre, viele Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Er war Gründungsmitglied des “Reichsbundes der Kinderreichen” und ging selbst mit bestem Beispiel voran.

 

Dies wurde in der Folge zum Angelpunkt für mein Projekt. Selbst heute noch fühlt sich eine Mehrzahl meiner Verwandten auf die eine oder andere Weise der Idee der Grossfamilie verpflichtet.

 

Gemeinsam mit meinem Cousin Eckhart Derschmidt habe ich im Oktober 2010 eine Internetplattform auf der Basis von Web 2.0 veröffentlicht und die Familienmitglieder aufgefordert, sich daran zu beteiligen. Der Text der Startseite war zugegeben sehr provokant formuliert, verfehlte daher nicht seine Wirkung. Er lautete sinngemäss so: “Hat der Eugeniker Dr. Heinrich Reichel zu Beginn des 20en Jahrhunderts sein ganz persönliches Vererbungsexperiment gestartet? Schliesslich hat er 9 Kinder, 36 Enkelkinder und über 80 Urenkel usw. usf.  Sind wir das Ergebnis eines genetischen Versuches? Lasst uns dieses Experiment evaluieren…”

 

Ich habe den Familienmitgliedern versprochen, die Internetseite zwei Jahre lang geschlosssen zu führen (2010-2012). Von der Gesamtzahl aller Familienmitglieder (kleine Kinder und alte Leute, die keinen Computer benützen, mitgezählt) sind im Zuge eines sehr schwierigen und schmerzhaften Prozesses bis dato etwa ein Drittel als User beigetreten

 

Ironischerweise wurde ich zu einer Art Gegenspieler meines Urgrossvaters. Wie in einer Spiegelung tue ich eigentlich jetzt genau das, was er verlangte: nämlich Familienforschung. Im Gegensatz zu ihm interessiert mich die genetische Weitergabe, innerhalb des von den Eugenikern so genannten “Erbstroms” nicht im Geringsten. Ich  versuche hingegen, die Weitergabe von Weltanschauungen, Ideologie und politischen Haltungen über sechs Generationen in dieser bürgerlichen Grossfamilie zu thematisieren.

 

In der Folge begann ich Historiker_innen, Soziolog_inn_en, Psycholog_inn_en und andere Expert_inn_en zu kontaktieren. Ich lud sie ein, unserem Projektbeirat beizutreten. In der Folge wurde die Projektdatenbank durch eine Vielzahl an Dokumenten aus Archiven, theoretischen Texten und anderen Materialien angereichert.

 

Im Zusammenhang mit einem anderen meiner Projekte war ich im Jahr 2011 zu einem Vortrag nach Leipzig eingeladen. Beim Spaziergang durch die Stadt sprang mir bei der Gedenkstätte für die Große Synagoge folgende Inschrift in´s Auge: „Hier wurde am 9. November 1938 die grosse Synagoge der israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig durch Brandstiftung faschistischer Horden zerstört. Vergesst es nicht.“ Ich fragte meinen Begleiter, wo denn diese „faschistischen Horden“ hergekommen und wohin sie danach wieder verschwunden seien. Für mich war diese Inschrift insofern sehr erhellend, weil sie etwas grundlegendes über den Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in vielen Bereichen und über sehr lange Zeit aussagt.

 

Für dieses Projekt ist es von grosser Wichtigkeit, zu verstehen, dass die Nazis nicht wie eine Horde Wahnsinniger aus dem Nichts kamen und wieder verschwunden sind. Sie waren auch keine von aussen kommenden “Andere” sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft: Die eigenen Väter und Mütter, Grosseltern, Tanten und Onkel waren “die Nazis”. Wenn man einen Schritt zurück tut und mit diesem grösseren Blickwinkel auch das 19. Jahrhundert mitbetrachtet, kann man am konkreten Beispiel dieser bürgerlichen Grossfamilie gut aufzeigen, wie sich die vielen oft sehr unseligen Wechselwirkungen zwischen Nationalismus, Jugendbewegung, Erneuerungs- und Reinheitsphantasien und nicht zuletzt moderner Wissenschaft usw. ergeben haben müssen. Diese spezifische Familie ist diesbezüglich alles andere als besonders einzigartig. Das Projekt “Reichel komplex” kann vielmehr als Modell für viele österreichische, deutsche und andere europäische Familien dienen, die in den Holocaust verwickelt waren.

 

Für die jetzt lebenden Generationen geht es vermutlich weniger um Schuld als um Scham. Die Scham muß sich auch nicht notwendigerweise auf die (möglichen) Taten

der eigenen Eltern oder Großeltern beziehen. Ich habe mittlerweile den Eindruck gewonnen, daß es sehr oft auch um die Frage geht, wie es sein kann, daß mensch ein ganzes Leben lang nicht gefragt hat und nicht wissen wollte oder daß sogenannte „Werte“ unhinterfragt weitergetragen und gepflegt wurden, die man dem österreichischen Nachkriegsnarrativ[1] konform in ihrer ideologischen Verfänglichkeit bagatellisiert oder für harmlos gehalten hat und teilweise immer noch hält.

 

Auch wenn ich in meine mütterliche Herkunftsfamilie blicke, finde ich dort weder NS Opfer noch Widerstand, auch dort finden sich Fotos mit HJ Uniformen, NSDAP Mitgliedschaften, ein Gemisch aus völkisch jugendbewegten Ideen in diesem Fall kombiniert mit ausgeprägtem Katholizismus… ja selbst einen Wissenschafter hat die Familie Klebel zu bieten: Dr. Ernst Klebel[2] – einen Historiker, der – man forsche nach – aus irgendeinem Grund nach 1945 einen Karriereknick vergewärtigen musste. Der Briefbomber Franz Fuchs hat in seinen Bekennerbriefen aus dessen Forschungen zu den „Bajuwaren“ ausfürlich zitiert.

 

Ich selbst jedenfalls werde trotzdem immer Teil dieses Systems bleiben, ob ich will oder nicht. Da gibt es kein Entkommen.

 

[1] Siehe Margit Reiter Framework. Postnationalsozialistische Familien(re)konstruktionen im österreichischen Kontext in diesem Buch

[2] Vgl. Wolfram Ziegler „Ernst Klebel (1896-1961) – Facetten einer österreichischen Historikerkarriere in „Österreichische Historiker – Lebensläufe und Karrieren 1900-1945“ Band 2 Karel Hruza (Hg.) Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012