Zwei Familien Archive Tel Aviv
Zwei Familien Archive – Shimon Lev, Friedemann Derschmidt
Objekte der Erinnerung – Shimon Lev
Seit Anfang der 1990er Jahre arbeite ich an einem Projekt, das sich mit dem Erinnern und dem Werdegang meiner Familie auseinandersetzt.
Das “Familien-Fototagebuch” besteht bereits aus hunderten Fotografien, die unterschiedlichste Aspekte der Familie abbilden. Während der Jahre sind Fragen nach der Kontinuität jüdischer Kultur, dem Umgang mit dem Holocaust sowie den Brüchen und dem Elend nach diesem aufgetaucht.
Mein Vater, der namhafte Physiker Wilhelm (Ze’ev) Löw, ist 1922 in Wien geboren. Nach dem ersten Weltkrieg waren seine Großeltern aus Polen eingewandert. Ihre Gräber befinden sich am Wiener Zentralfriedhof (4.Tor). Mein Vater wuchs in Wien bei seinen Eltern Nachum und Erna gemeinsam mit seiner Schwester Liane auf, welche 1927 zur Welt gekommen war. 1934 verließ die Familie Wien und zog erstaunlicher- und letztendlich tragischer weise nach Berlin. Der Grund für den Umzug war ein wirtschaftlicher: man musste sich um ein Haus im Besitz der Familie kümmern. Rückblickend betrachtet lief diese Entscheidung allem entgegen, was zum damaligen Zeitpunkt geboten gewesen wäre und endete folglich auch in einer Katastrophe. Die Familie lebte in Berlin, in der Thomasiusstraße 11 und Willi und Liane gingen in die Adass Jisroel Schule. Im Jänner 1939 wurde der 16-jährige Willi von den Eltern per Kindertransport nach England geschickt, um sein Leben zu retten. Als deutscher Staatsbürger wurde er zu Beginn des zweiten Weltkrieges nach Kanada in ein Internierungslager gebracht. Er korrespondierte mit seiner Familie in Berlin, aber er hat sie nie wieder gesehen. Der Briefverkehr unterlag in den folgenden Jahren einer immer strenger werdenden Zensur und ab Anfang 1942 konnte die Familie einander nur mehr formalisierte Briefe über das rote Kreuz schreiben. Diese waren auf 25 Worte begrenzt. Der letzte solche Brief aus Berlin war Ende April 1943 aufgegeben worden.
Willis Schwester Liane, der meine Tochter Tamar unglaublich ähnlich sieht, war ebenfalls zu Verwandten nach Belgien geschickt worden, um sie zu retten. Als die Deutschen jedoch über Belgien in Frankreich einfielen, flohen die Verwandten mit Liane in den noch freien Teil Frankreichs, wo sie für sich Visa in die Vereinigten Staaten bekommen konnten. Liane jedoch musste mit dem Zug zu ihren Eltern nach Berlin zurück geschickt werden. Am 17. Mai 1943 wurden Erna, Nachum und die 14-jährige Liane aus ihrer Wohnung geworfen. Sie wurden in die Synagoge in der Lewetzowstraße getrieben, von wo sie zum Bahnhof Putlitzstraße marschieren mussten. Sie wurden mit dem 38. Transport “Ost” nach Ausschwitz deportiert, wo man sie ermordet hat.
In den letzten Jahren habe ich in Wien, Berlin, der Ukraine und in Israel an einem Projekt mit dem Titel “Objekte des Erinnerns” gearbeitet, welche als Teil meines “Familien Fototagebuches” zu verstehen sind. Ich habe den Wurzeln und den Erinnerungen der Familie meines Vaters nachgespürt, verschiedene Orte aufgesucht und an diesen fotografiert. Die in dieser Ausstellung gezeigten Arbeiten stellen nicht den Versuch dar, mit dem Holocaust in seiner unbegreiflichen Gesamtheit umzugehen. Vielmehr geht es darum, die unheimliche Kompliziertheit der “kleinen” und privaten Vergangenheit in den Blick zu bekommen. Dies vor dem Hintergrund einer Kindheit und eines Lebens im heutigen Israel. In den Arbeiten verhandle ich Fragen der persönlichen und der nationalen Geschichten in Vergangenheit und Gegenwart, der Möglichkeit eines Dialoges mit Deutschen und Österreichern sowie Fragen der Archive und der Methoden, wie Geschichte integriert oder ausgeklammert, gemacht, dargestellt und an eine Gesellschaft weitergegeben wird.
Reichel komplex – Friedemann Derschmidt
In den spätern 1960er und den frühen 1970er Jahren bin ich in einer bekannten oberösterreichischen Großfamilie in dem Bewußtsein erzogen worden, etwas “Besonderes” zu sein. Worin diese Besonderheit bestehen sollte, war unklar.
Über die Jahre und nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie habe ich herausgefunden, dass in der Großfamilie ein sehr komplexes Gespinst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generationen der Großeltern und Urgroßeltern gewoben worden war. Ich erkannte, dass auch Menschen, die mir emotional sehr nahe standen, aktiv an dieser Selbstverherrlichung der Großfamilie Teil hatten und teilweise daran bis heute festhalten. Innerhalb dieses Kokons aus Geschichten wurde mir schrittweise immer klarer, daß nicht wenige Familienmitglieder aktive und begeisterte Nazis gewesen viele in der NSDAP einige sogar hohe Offiziere bei SS und SA gewesen waren und manche durchaus einflussreiche Positionen in allen Sparten der Gesellschaft während des Dritten Reiches inne hatten.
Ich begann Interviews mit Verwandten zu führen und eine ungeheure Fülle an Material zu sammeln. Zu diesem Zeitpunkt war ich zu einer Art Familienchronisten geworden. Dennoch hatte ich vorläufig nicht die geringste Ahnung, was ich mit all der Information anstellen sollte.
In dem, was ich als “das System der Familie” bezeichne, spielte mein Urgroßvater offensichtlich eine zentrale Rolle. Er war Arzt und Universitätsprofessor und ein nicht unbekannter Vertreter der Eugenik in Österreich. Seinen Studierenden bläute er ein, dass Familien und Ahnenforschung ein wichtiges Werkzeug der – wie es damals hieß – “Rassenforschung” sei und dass es von großer Wichtigkeit wäre, viele Kinder zu zeugen und aufzuziehen. Er war Gründungsmitglied des “Reichsbundes der Kinderreichen” und ging selbst mit bestem Beispiel voran.
Dies wurde in der Folge zum Angelpunkt für mein Projekt. Selbst heute noch fühlt sich eine Mehrzahl meiner Verwandten auf die eine oder andere Weise der Idee der Großfamilie verpflichtet.
Gemeinsam mit meinem Cousin Eckhart Derschmidt habe ich im Oktober 2010 eine Internetplattform auf der Basis von Web 2.0 veröffentlicht und die Familienmitglieder aufgefordert, sich daran zu beteiligen. Der Text der Startseite war zugegeben sehr provokant formuliert, verfehlte daher nicht seine Wirkung. Er lautete sinngemäß so: “Hat der Eugeniker Dr. Heinrich Reichel zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein ganz persönliches Vererbungsexperiment gestartet? Schließlich hat er neun Kinder, 36 Enkelkinder und über 80 Urenkel. Sind wir das Ergebnis eines genetischen Versuches? Lasst uns dieses Experiment evaluieren …”
Ich habe den Familienmitgliedern versprochen, die Internetseite zwei Jahre lang geschlosssen zu führen (2010-2012). Von der Gesamtzahl aller Familienmitglieder (kleine Kinder und alte Leute, die keinen Computer benützen, mitgezählt) sind im Zuge eines sehr schwierigen und schmerzhaften Prozesses bis dato etwa ein Drittel als User beigetreten.
Ironischerweise wurde ich zu einer Art Gegenspieler meines Urgroßvaters. Wie in einer Spiegelung mache ich eigentlich jetzt genau das, was er verlangte: Ich betreibe Familienforschung. Im Gegensatz zu ihm interessiert mich die genetische Weitergabe innerhalb des von den Eugenikern so genannten “Erbstroms” nicht im Geringsten. Ich versuche hingegen, die Weitergabe von Weltanschauungen, Ideologie und politischen Haltungen über sechs Generationen in dieser bürgerlichen Großfamilie zu thematisieren.
In der Folge begann ich Historiker, Soziologen, Psychologen und andere Experten zu kontaktieren. Ich lud sie ein, unserem Projektbeirat beizutreten. Gleichzeitig wurde die Projektdatenbank durch eine Vielzahl an Dokumenten aus Archiven, theoretischen Texten und anderen Materialien angereichert.
Für das Projekt ist es von großer Wichtigkeit, zu verstehen, dass die Nazis nicht wie eine Horde Wahnsinniger aus dem Nichts kamen und wieder verschwunden sind. Sie waren auch keine von aussen kommende “Andere” sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft: Die eigenen Väter und Mütter, Großeltern, Tanten und Onkel waren “die Nazis”. Wenn man einen Schritt zurück tut und mit diesem größeren Blickwinkel auch das 19. Jahrhundert mitbetrachtet, kann man am konkreten Beispiel dieser bürgerlichen Großfamilie gut aufzeigen, wie sich die vielen oft sehr unseligen Wechselwirkungen zwischen Nationalismus, Jugendbewegung, Erneuerungs- und Reinheitsphantasien und nicht zuletzt moderner Wissenschaft ergeben haben müssen. Diese spezifische Familie ist diesbezüglich alles andere als einzigartig. Das Projekt “Reichel komplex” kann vielmehr als Modell für viele österreichische, deutsche und andere europäische Familien dienen. Für die jetzt lebenden Generationen geht es vermutlich weniger um Schuld als um Scham. Ich selbst jedenfalls werde trotzdem immer Teil dieses Systems bleiben, ob ich will oder nicht. Da gibt es kein Entkommen.
Der Dialog
Ein Dialog zwischen einem israelischen und einem österreichischen Künstler, die sich jeweils der diametral entgegengesetzten Vergangenheiten ihrer Familien anzunähern und auszusetzen versuchen, ist nachvollziehbarer Weise sehr heikel und herausfordernd. Dieses gemeinsame Projekt versucht sich widersprüchlichen und schwierigen Aspekten des Holocausts in jenen Momenten zu stellen, wo die Frage des persönlichen Umgangs mit demselben und des Umgangs miteinander schlagend wird.
Das Ganze gleicht einer Wanderung in einem Minenfeld, weil jedes noch so kleine Thema, jeder Ansatzpunkt und jeder Gedanke das Potential hat, gleichsam zu detonieren und sowohl einen selbst als auch andere zu verletzen.
Obwohl beide Künstler mit ähnlicher Besessenheit ihrer jeweiligen Familiengeschichte nachspüren, gibt es eklatante Unterschiede.
Der eine kann sich einer Überfülle an Material bedienen und mit vielen Angehörigen Videogespräche führen aufgrund der Tatsache eines ununterbrochenen und ungebrochenen Fortlebens in Österreich. Der andere bleibt hingegen nur auf ein paar Fotos und Objekte, die vom Leben der Familie in Wien und Berlin zeugen, zurückgeworfen, um mit diesen zu arbeiten.
Die Idee zu “Zwei Familien Archive” entstand während eines Residency Aufenthalt Shimon Levs 2012 in Wien, der vom Forschungsprojekt MemScreen an der Akademie der bildenden Künste in Wien ausgeschrieben worden war. Friedemann Derschmidt war neben Tal Adler und Karin Schneider einer der Initiatoren von MemScreen.
Shimon Lev, Friedemann Derschmidt
Tel Aviv, Wien, 2014