Stehn.

 

Stehen ist wie Sitzen

“In unserem Vaterlande herrscht von alters her ein wahrer furor prohibendi, eine Neigung zum Bevormunden, Eingreifen und Verbieten, die, wie wir alle wissen, nicht gerade gute Früchte getragen hat. Es scheint, dass es im neuen, republikanischen Österreich noch nicht viel anders geworden ist. […] Ich meine, dass ein Überfluss von Verordnungen und Verboten der Autorität des Gesetzes schadet. Man kann beobachten: Wo nur wenige Verbote bestehen, da werden sie sorgfältig eingehalten; wo man auf Schritt und Tritt von Verboten begleitet wird, da fühlt man förmlich die Versuchung, sich über sie hinwegzusetzen. Ferner, man ist noch kein Anarchist, wenn man bereit ist einzusehen, dass Gesetze und Verordnungen nach ihrer Herkunft nicht auf den Charakter der Heiligkeit und Unverletzlichkeit Anspruch haben können, dass sie oft inhaltlich unzulänglich und für unser Rechtsgefühl verletzend sind oder nach einiger Zeit so werden, und dass es bei der Schwerfälligkeit der die Gesellschaft leitenden Personen oft kein anderes Mittel zur Korrektur solch unzweckmäßiger Gesetze gibt, als sie herzhaft zu übertreten.” Sigmund Freud: “Die Frage der Laienanalyse” (1926).

Chris ist Punk und Augustinverkäufer in der Mariahilfer Straße. In einem Gespräch lässt er en passant die Information aus, einmal mehr müsse er drei Tage “wegen Herumstehens” ins Polizeigefängnis. Das kann so nicht stimmen, wenden wir ein. So ein Verbot gibt es nicht einmal in Österreich. Zufällig flattert uns am folgenden Tag die Kopie einer Strafverfügung zu, adressiert an einen anderen Straßenmenschen (bzw. an die Sozialeinrichtung, die ihn betreut). Sie haben am Soundsovielten durch unbegründetes Stehenbleiben in der Mitte der Passage andere Passanten behindert. Sie haben dadurch folgende Rechtsvorschrift verletzt: § 78c StVO. Wegen dieser Verwaltungsübertretung wird über Sie folgende Strafe verhängt: 70,00 Euro oder Ersatzfreiheitsstrafe von 70 Std.

§ 78 StVO. Verhalten auf Gehsteigen und Gehwegen in Ortsgebieten Auf Gehsteigen und Gehwegen in

Ortsgebieten ist verboten:

a) Gegenstände, insbesondere solche, die scharf, spitz oder sonst gefährlich sind, so zu tragen, dass andere Straßenbenützer gefährdet werden können,

b) blendende Gegenstände unverhüllt zu tragen,

c) den Fußgängerverkehr insbesondere durch den Verkauf oder die Verteilung von Programmen oder Eintrittskarten vor Theatern und Vergnügungsst.tten, durch das Verstellen des Weges, durch das Tragen von Reklametafeln sowie durch den Verkauf von Druckschriften, durch das Mitführen von Tieren oder durch unbegründetes Stehenbleiben zu behindern.

Ein bisserl recherchieren im Milieu ist nun angebracht. Rasch stellt sich heraus: Die Polizei, unter Druck von Geschäftsleuten, anständigen Bezirkspolitikern etc., hat ein Instrument entdeckt, um das Erscheinen unerwünschter Personen im öffentlichen Raum für diese unattraktiv zu gestalten. Unerwünscht sind Punks, Säufer, Junkies, Sandler. Der § 78 der Straßenverkehrsordnung – der Säuberungsparagraph, wie ihn der “Augustin” gleich nennen wird – wird ausschließlich gegen Marginalisierte verwendet. Wer immer die Wiener Straßenzeitung liest, erfährt nun Ausgabe für Ausgabe Gründe, warum man diese Verordnung (siehe Sigm. Freud) herzhaft übertreten sollte.

Auch Wiens Bürgermeister liest seine Straßenzeitung. Auf einer von den Grünen losgetretenen Landtagsdebatte zu dem vom “Augustin” aufgerollten Thema “Unbegründetes Stehen” nimmt Michael Häupl wie folgt Stellung. Der Vorwurf der “Menschenrechtsverletzung” sei ihm zwar übertrieben vorgekommen, jedenfalls sei es “eine unerfreuliche Geschichte”, falls die Wahrnehmung des Augustin korrekt sei – dass nämlich Personen, die nicht der “Norm” entsprechen, mittels schikanöser Anwendung des § 78 der Straßenverkehrsordnung der Aufenthalt in öffentlichen Raum verleidet werde. Er habe sich nach der Lektüre des “Augustin” bei der Wiener Polizei erkundigt. “Nach Auskunft der Polizei wurde eine solche Amtshandlung ein einziges Mal in der Tat auch protokolliert. Es handelte sich um einen Fall in der Mariahilfer Straße, vor dem Generalicenter, wo es wegen einer Gruppe von Punks mit Hunden zu einer Fülle von Beschwerden gekommen ist. Die Polizei hat in diesem Fall nicht nur nach den Mitteln des Wegweiserechts nach dem Wiener Landessicherheitsgesetz, sondern auch nach dem der Straßenverkehrsordnung gegriffen. Wenn diese Information stimme – fuhr Bürgermeister Häupl fort (und er habe “zur Stunde natürlich keinerlei Veranlassung, dies zu bezweifeln”) – dann liege hier nicht “Menschenrechtsverletzung” vor. Die Belästigung von Müttern mit Kindern durch Punks mit ungesicherten Hunden gefalle ihm nämlich “mindestens genau so wenig”. Sollte dies tatsächlich der einzige Fall gewesen sein, “wo man die Ordnung mit dem entsprechenden Paragraphen aus der Straßenverkehrsordnung wiederhergestellt hat”, fehle ihm jeder Anlass zur Beschwerde.

Der “Augustin” wird replizieren, der Bürgermeister sei von der Polizei falsch informiert worden. Ehrlich: Es geht nicht um Einzelfälle. Seither wird herzhaft gestanden. Unbegründetes Stehen ist subversiv geworden. Stehen ist wie Sitzen. Wie Frühstücken im öffentlichen Raum. Stehen und Sitzen gehören zusammen. Beides ist das Gegenteil von Kaufen, der einzigen Tätigkeit, die durch keinerlei Verordnung behindert wird. Als Kunstaktion ist “unbegründetes Stehen” die schmuddelige Schwester von permanent breakfast, denn ihr Ausgangspunkt ist die konkrete Repression gegen die Schmuddelkinder. Unbegründetes Stehen ist die Fortsetzung des immerwährenden Frühstücks in die Welt der VerliererInnen hinein. Die Position, dass VerliererInnen im öffentlichen Raum unserer Städte nichts verloren haben, muss denunziert werden, am besten durch eine Synthese von sozialer und künstlerischer Praxis.

Der “Augustin”, der sich auch auf dem Feld der sozialen Arbeit bewegt, ist auf die Skepsis mancher ExpertInnen der sozialen Arbeit gestoßen. Die “Augustin”-Forderung nach “Recht auf Straße” sei in Bezug auf die Zielsetzung “Menschenrecht auf Wohnung” kontraproduktiv. Dieser Einwand löste auf Augustinseite Staunen aus. Die beiden Zielsetzungen stören einander nicht. Die freie Benutzung des öffentlichen urbanen Raumes bleibt uns ein wichtiges Anliegen. Stehen wir unnütz herum und frühstükken wir, bis die BezirksvorsteherInnen Fleckerlteppiche auf Asphalt legen lassen.

Robert Sommer